Die Ablösung vom Elternhaus – unterschiedliche Sichtweisen

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Im Prozess der Ablösung vom Elternhaus wird die Familie zu einem Schnitt-punkt gegenläufiger Strömungen: Nähe und Distanz, Vertrautheit und Fremdheit, Beziehung und Entziehung, Freundschaft und Gegnerschaft, Anpassung und Widerstand, Einverständnis und Widerspruch.

Der Ablösungsprozess lässt niemanden kalt. Alle Beteiligten sind ganz unmittelbar betroffen. Und alle erleben ihn aus ihrer ganz persönlichen Sichtweise – oft unterschiedlich, mitunter sogar völlig gegensätzlich. Jedes Familienmitglied hat seine je eigene Lebensgeschichte; jedes Familienmitglied findet seine je eigenen Lebensbedingungen vor; jedes Familienmitglied entwickelt seine je eigene Lebensperspektive. Entsprechend gewichten und bewerten alle die Ereignisse und Abläufe in der Familie ganz subjektiv aus ihrem Blickwinkel. Das macht den Ablösungsprozess so spannend – und so spannungsgeladen. Meinungsverschiedenheiten, heftige Auseinandersetzungen, Streit und Konflikte sind da vorprogrammiert.

Die Perspektive der Heranwachsenden
Zwei Jahrzehnte und länger haben sie in und mit der Familie gelebt. Nun müssen sie aus diesem Schonraum herauswachsen und sich den Verantwortlichkeiten des Lebens stellen. Die einen fühlen sich hin- und hergerissen zwischen Rückzug und Auszug, zwischen familiärer Vertrautheit und Geborgenheit einerseits und der Anonymisierung und der Kälte der öffentlichen Lebenswelt andererseits. Sie erleben ihre Lebenssituation als in hohem Maße zwiespältig und verworren. Die anderen wollen endlich über ihr Leben selbst bestimmen und Entscheidungen treffen, ohne jeweils um Erlaubnis bitten zu müssen, doch die Realität – die materielle Abhängigkeit vom Elternhaus – setzt ihrem Wunsch nach Freiraum und Freiheit Grenzen.

Bei allem Bemühen um ein partnerschaftliches Verhältnis: Eltern bleiben Eltern, wie Kinder immer auch Kinder bleiben. Und beide Seiten bringen ihre bewährten Verhaltensmuster und die vielfach erprobten Strategien ins Spiel. Auch Heranwachsende brauchen Eltern, aber andere als in der Kindheit. Eltern, die ihre Kinder loslassen, sie dennoch nicht allein lassen. Eltern, die ihre Kinder als gleichberechtigte Partner akzeptieren lernen, sie dennoch nicht über die eigene Meinung im Unklaren lassen. Um zur eigenen Identität zu finden, um Auskunft über sich selbst zu erlangen, brauchen Heranwachsende die Auseinandersetzung mit Erwachsenen. Über die Konfrontation mit dem Standpunkt der Eltern finden sie ihren eigenen Standort.

Die Perspektive der Mütter
Die Mütter gehören in der Regel noch der Frauengeneration an, die um der Familie willen völlig oder zumindest zeitweise auf eine außerhäusliche Erwerbstätigkeit verzichtet hat. Sie haben sich auf die Erziehung ihrer Kinder konzentriert und darin Bestätigung und Sinn gesucht und meist auch gefunden. Sie trifft der Ablösungsprozess besonders hart, weil mit dem drohenden Verlust der Mutterrolle unweigerlich eine Identitäts- und Sinnkrise verbunden ist. Wofür bin ich jetzt noch da? Wer braucht mich? Was bin ich noch wert? Die meisten Mütter dieser Frauengeneration haben selten an sich selbst gedacht und eigene Bedürfnisse und Wünsche immer wieder zurückgestellt, sodass ein enormer Nachholbedarf besteht.

Vielen Frauen gelingt es, neue Sinn- und Lebensfelder außerhalb der Familie für sich zu entdecken und darüber zu einer neuen Identität zu gelangen. Anderen wiederum bleibt dies aus unterschiedlichen Gründen versagt. So versuchen sie, den Auszug der Kinder möglichst lange hinauszuzögern, um den vermuteten Bruch in ihrer Lebensbiographie (vorerst) zu vermeiden. Solche Mutter-Kind-Bindungen verfestigen sich noch in dem Maße, wie immer mehr Frauen im mittleren Alter nach einer Trennung bzw. Scheidung oder aufgrund einer Entfremdung in der Ehe auf sich allein gestellt sind und in den Kindern, vor allem den Söhnen, einen Partnerersatz sehen: Nun müssen wenigstens wir beide fest Zusammenhalten.

Zwischen Anbinden und Loslassen, zwischen Zurückhalten und Freigeben pendeln die Gefühle und Empfindungen vieler Mütter. Was Verstand und Vernunft sagen, ist noch lange nicht im Herzen vollzogen.

Die Perspektive der Väter
Für die Väter scheint sich zu dieser Zeit kaum etwas zu ändern. Sie gehen weiter ihrem Beruf nach, viele gehen sogar völlig in ihm auf. Doch der Schein trügt. Vielen Vätern wird erst mit dem bevorstehenden Auszug ihrer Kinder schmerzlich bewusst, wie sehr sie ihre Vaterrolle vernachlässigt und welch hohen Preis sie dafür gezahlt haben. Manche entdecken erstmalig die Familie und wollen nun – zum Erstaunen aller – verstärkt auf Familie machen. Während es die Kinder und oft auch die Mütter in ihrer Freizeit aus dem Hause herausdrängt, zieht es die Väter in die Familie zurück. Diese gegenläufigen Grundströmungen verstärken vielfach den Prozess der Entfremdung und sind oft genug Anlass zu gegenseitigen Unterstellungen und Schuldvorwürfen. Die Familie, vor allem die Eheleute, leben sich buchstäblich auseinander.

Für die meisten Männer im Alter ab 55 Jahren ist das Ende der Berufstätigkeit absehbar. Der (Vor-)Ruhestand rückt immer näher. Viele erleben sich als Opfer einer arbeits- und konjukturpolitischen Fehlentwicklung und werden mit ihrer Kündigung nicht fertig. Sie fühlen sich abgeschoben, zu nichts mehr nutze. Spätestens zu diesem Zeitpunkt stellt sich auch den Männern die Frage nach Identität, Selbstwert, Sinn und mitunter nach verpasstem Leben.

Die Väter dieser Generation tun sich meist noch schwer mit dem gewandelten Selbstverständnis ihrer Frauen und ihrer erwachsenen Kinder. Oft erleben sie diese Veränderung als Bedrohung ihrer eigenen (Macht-)Position innerhalb der Ehe bzw. der Familie und blockieren die Entwicklung. Wenn jedoch die Frau weiterzieht und der Mann nicht mitzieht, dann zieht es in der Beziehung, bis es eines Tages zur Zerreißprobe kommt. Diese Veränderung zwingt die Männer zum Umdenken: Sie müssen die eigene Rolle und Position neu bestimmen und sich verstärkt um ein partnerschaftliches Verhalten zu Frau und Kindern bemühen. Doch das ist leichter gesagt als getan.

Die Perspektive des Elternpaares
Wenn die Kinder aus dem Hause gehen, beginnt für die Eltern ein völlig neuer Lebensabschnitt. Fast die Hälfte ihrer Ehe liegt noch vor ihnen. Der drohende Verlust des gemeinsamen Lebensinhaltes verlangt nach einer neuen Ausrichtung der Ehe. Die meisten Eheleute haben sich in der Familienphase mehr als Eltern und weniger als Ehepartner erfahren. Oft genug waren die Kinder alleiniger Gesprächsstoff und bevorzugter Sinnträger ihres Lebens.

Nun beginnt die schwierige Zeit der Um- und Neuorientierung mit zahlreichen Problemen, Sorgen, Nöten und Krisen, aber auch mit etlichen Möglichkeiten, Chancen und Aufbrüchen. Wieder zu zweit allein, sind die Eheleute mehr denn je aufeinander verwiesen, ohne jede Ausweichmöglichkeit. Sie haben ausreichend Zeit füreinander, können gemeinsamen Interessen und Wünschen nachgehen und sich einander wieder annähern. Die neue Gemeinsamkeit schafft ein hohes Maß an Verbundenheit und Solidarität.

In der neuen Zweisamkeit wird vielen Eheleuten jedoch ihre Einsamkeit erst richtig bewusst. Mit Erschrecken stellen sie fest, wie sehr sie sich auseinander gelebt haben und wie fremd sie einander geworden sind. So manche Ehe zerbricht dann endgültig. In anderen Familien wiederum füllen nach wie vor die Kinder die Leere der elterlichen Ehe aus. Aus falsch verstandener Loyalität können und wollen sie die Eltern mit ihren ehelichen Problemen nicht allein zurückzulassen. So werden die Kinder letztlich zu Opfern ihrer angeblich so aufopferungsvollen Mütter und Väter. Eine solche Fehlentwicklung be- oder verhindert gar möglich Freund- und Liebschaften. Der Weg zur eigenen Ehe wird dann lang und länger, bis er eines Tages vielleicht völlig verbaut ist.

Eine Beziehung
ist wie ein Hausdach,
das auf zwei Säulen ruht.
Wenn die Säulen
zu dicht oder zu weit
auseinander stehen,
fällt das Haus
in sich zusammen.
Khalil Gibran

Anregungen für den Ablösungsprozess
• Ein erster Schritt ist, dass jedes Familienmitglied herausfindet, was seine oder ihre Bedürfnisse und Ziele sind. Erfahrungsgemäß tun sich die Mütter damit am schwersten, und sie benötigen am meisten Unterstützung dabei, herauszufinden, was ihre individuellen Wünsche sind. Hilfreich kann es sein, diese im Freundeskreis zu besprechen. Frauen und Männer müssen sich darüber im Klaren sein, dass ein dauerndes Zurückstellen eigener Wünsche zutiefst unglücklich und vielleicht krank macht. Es zeugt nicht von besonders großer Nächstenliebe, wenn jemand immer nur an andere denkt.
• Die Ablösungsphase ist geprägt von Ängsten vor dem Alleinsein und vor Veränderung – bei den Kindern und gleichermaßen auch bei den Eltern. Diese Ängste gehören zur Entwicklung und wollen bewältigt werden. Jede Entwicklung fordert neue Erfahrungen, die zunächst unbekannt und ängstigend sind. Problematisch wird es, wenn jemand diese Angst vermeidet und damit die notwendigen Fort-Schritte zu verhindern versucht. Große unbewältigte Ängste behindern Ablösungen.
• Zum Loslassen gehört Schmerz, es ist ein großer Einschnitt und beinhaltet viele Abschiede. Es kann hilfreich sein, sich immer wieder bewusst zu machen, dass die Ablösephase kein Sonntagsspaziergang ist, um auf die dazugehörigen Verwirrungen und Krisen eingestellt zu sein.
• Hilfreich in Krisen ist es, sich bewusst zu machen, welche Ressourcen die Individuen und die Familie miteinander haben: Was macht Spaß miteinander, wo können jeder und jede auftanken, wo liegen die persönlichen Kraftquellen?

• Wenn Eltern miteinander darüber sprechen, wie sie sich von ihren Eltern gelöst haben, können sie positive und hindernde Erfahrungen erkennen und versuchen, bewusst aus ihren Erfahrungen Lehren zu ziehen.
• Was das Paarleben anbetrifft, so ist es sehr wichtig, darauf zu achten, dass das Ehepaar nicht nur Elternpaar ist. Eine Pflege der Partnerschaft – ab der Geburt des ersten Kindes! – ist eine gute Vorbeugung gegen den Ablöseschock. Ebenso ist es hilfreich, immer wieder Inventur bezüglich der ehelichen Regeln und Aufgabenverteilungen zu machen.
• Das Gleiche gilt für den großen Bereich der familiären Aufgabenverteilung: Wer beginnt, Hausarbeit zu verteilen, wenn die Kinder auch im Beruf sind, hat schwierige Zeiten vor sich. Es ist leichter, Mitarbeit im Haushalt einzuführen, wenn die Kinder klein sind, und sie zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen. Erleichternd ist es, wenn die Väter auch ihre Teile übernehmen. Kinder orientieren sich in dem Ausmaß, in dem sie sich an Haushaltsarbeit beteiligen, an der väterlichen Mitarbeit.
• Wichtig ist dabei wie bei allen Erziehungsthemen, dass die Eltern sich einigen und gemeinsam die Richtlinien festlegen. Wenn Kinder merken, dass es heimlich dem Vater ganz recht ist, wenn sie nicht im Haushalt helfen, da so die Mutter nicht auf die Idee kommt, außer Haus zu arbeiten, bestehen äußerst schlechte Chancen, das Problem zufrieden stellend zu lösen: Vordringlich ist deshalb eine Auseinandersetzung des Ehepaares miteinander.

• Schwierige Erziehungsthemen verschärfen sich oft, wenn die Kinder älter werden, oder sie erscheinen unter neuen Vorzeichen. Ein Hauptproblem in Familien ist heute, dass Eltern sehr verunsichert sind, inwieweit sie ihren Kindern Grenzen setzen sollen. In der Ablösezeit stellt sich das Thema dann so dar, dass die Kinder sich im Hotel Mama bedienen lassen und die Eltern sich nicht trauen, den Nachwuchs in seinen Bedürfnissen einzuschränken. Je weniger Eltern ihrem Zweijährigen ein klares Nein entgegensetzen konnten, umso schwieriger wird es einem Zwanzigjährigen gegenüber. Hier hilft nur eine klare und egoistische Haltung der Eltern, die viel Kraft erfordert.
• Ein weiterer zentraler Punkt ist die Verteilung des Geldes. Auch hier sind das offene Gespräch und die Einigung der Eltern notwendig. Eine verwöhnende Haltung führt nicht selten zu Problemen des Nachwuchses mit Finanzen. Auch wenn manche jungen Erwachsenen dies als Ausbeutung darstellen, ist ein finanzieller Beitrag zum elterlichen Haushalt vom eigenen Verdienst kein Tabu. Schwieriger wird es, wenn die Kinder in der Ausbildung auf elterliche Unterstützung angewiesen sind. Hier müssen Eltern entscheiden, welchen Lebensstandard sie den Kindern ermöglichen wollen und inwieweit sie ihnen Zutrauen, durch Jobben zum eigenen Unterhalt beizutragen, ohne das Studium zu gefährden. Eine zeitliche Begrenzung der elterlichen Zuwendungen kann durchaus die Lernmotivation erhöhen.
• Eine hilfreiche Frage bei Problemen ist, welche Schwierigkeiten durch das nicht gelöste Problem verdeckt werden. Im Fall eines hartnäckigen Nesthockers heißt das: Welchen Konflikt wird es in unserer Familie geben, wenn das Kind ausziehen wird, welche Katastrophen befürchten die Familienmitglieder, welches Problem, das jetzt zweitrangig ist, träte dann in den Vordergrund?
• Eine Familie, die das Gespräch miteinander sucht und geübt hat, tut sich leichter, Konflikte aufzuspüren und zu lösen, als notorische harmoniebedürftige Unter-den-Teppich-Kehrer. Wenn erhebliche Unstimmigkeiten im Paarleben oder in der Familie chronisch werden, kann es hilfreich sein, die Hilfe einer Gesprächs- oder Familientherapie in Anspruch zu nehmen.

Vertrauen ist eine zentrale Vorbedingung für Erziehung und für eine gelungene Ablösung. Ein Merkmal der heutigen Zeit ist, dass Familien und ihre Mitglieder kaum auf passende Modelle zurückgreifen können. Durch die schnelle gesellschaftliche Entwicklung passen Lebensentwürfe und Konfliktlösungen früherer Generationen nicht mehr; und durch die große Vielfalt heutiger Lebensentwürfe passen oft auch die Lösungen der Nachbarn nicht. Die Zeit der Patentrezepte ist vorbei, jede Familie ist gefordert, eigene Lösungen zu erfinden und auszuprobieren, welche ihre spezifischen Auswege aus schwierigen Situationen sind. Der Vorteil dieser Individualisierung ist die größere Freiheit – auch unkonventionelle Lösungen sind erlaubt.
Brigitte Anheier